Der Herr von Riedesel zu Josbach oder
Was du nicht willst, das man dir tu, das füg´ auch keinem andern zu!
In Josbach lebten früher zwei Adelsgeschlechter, die Herren von Dörenberg und von Riedesel. Letzteres Geschlecht bewohnte den Wiesenhof, der heutzutage in mehrere Bauernhöfe aufgeteilt ist. Einer der Herrn von Riedesel war ein arger Leuteplager. Hatte einer der ihm zinspflichtigen Bauern den Zehnten nicht pünktlich oder vollständig entrichtet, so ließ er den säumigen Zahler kommen und an seinen Kutschwagen binden, wenn er über Land fahren wollte. Dann musste der Kutscher die Pferde zur höchsten Eile antreiben. Wohl oder übel mussten die angebundenen Bauern laufen, um mitzukommen. Schließlich verließen sie die Kräfte, und sie stürzten ohnmächtig nieder. Rücksichtslos ließ der Ritter weiterfahren, obgleich die armen Menschen geschleift wurden. Endlich ließ er halten, und die übel zugerichteten Bauern konnten zerschunden und mit zerrissenen Kleidern heimwanken.
Als der Ritter es aber immer ärger trieb, beschwerten sich seine lehnspflichtigen Bauern über ihn bei dem Landgrafen in Kassel. Dieser fuhr des Öfteren von Kassel nach Marburg und kam dabei durch Josbach. Da die Herrn von Riedesel ihren Wiesenhof vom Landgrafen zu Lehen hatten, gehörte es zu ihren Pflichten, den Fürsten bei seiner Durchreise an der Grenze der Gemarkung zu erwarten, ihn gebührend zu begrüßen und, neben dem landesherrlichen Wagen her reitend, ihn durch die Gemarkung zu begleiten.
Als der Landgraf wieder einmal durch Josbach kam, erwartete ihn der Ritter schon an der Gemarkungsgrenze. Kaum sah ihn der Landgraf, so sprach er kein Wort mehr sondern winkte nur den ihm folgenden Reitern. Diese ergriffen den Ritter und banden ihn an den landgräflichen Wagen. Im Schritt fuhr der Wagen durch Josbach. Die Bewohner eilten an Fenster und Türen oder auf die Straße, um den Landgrafen zu sehen. Staunend erblickten sie den Herrn von Riedesel, der nun dieselbe Strafe erdulden musste, die er so oft über sie verhängt hatte. Mit vor Scham gesenktem Haupte schritt der Adlige neben der Kutsche her. Aber sein Ohr empfing manch spöttischen Zuruf; auch seine zum Boden gerichteten Augen fingen manchen schadenfrohen hasserfüllten Blick auf. Alles sagte ihm, wie sehr man ihm sein Unglück gönnte.
Eine Ewigkeit dünkte ihm der Leidensweg durch das Dorf. Aber alles hat einmal ein Ende. Vor dem Dorfe schlug das landgräfliche Gespann einen flotten Trab an, und nun hieß es für den Ritter laufen, daß ihm der Schweiß aus allen Poren rann. Erst bei der „Niedling" ließ der Landgraf anhalten. Auf einen Wink wurde der Herr von Riedesel losgebunden. Ohnmächtig vor Wut und Erschöpfung sank er zu Boden. Aber die Kur hatte geholfen. Ritter von Riedesel wurde von jetzt an barmherziger gegen seine Bauern, da er am eigenen Leibe erfahren hatte, wie es tut, roh behandelt zu werden.